Herausforderungen und Erfolge sowie Herausforderungen, die ich als Erfolge sehe – Liubov Shynder

Liubov Shynder, IJBS Kreisau

Es ist schon einige Tagen her, dass die polnisch-deutsch-französische Jugendgruppe aus Kreisau abgereist ist. Die Teilnehmenden des Projekts haben uns dazu inspiriert, das Projekt „Jazda!” zu nennen.

Dieser sloganartige Name ist eine Besonderheit unter unseren Projekten der letzten Jahre; die Namen, die wir sonst verwenden, beschreiben meist den Inhalt oder die Form des Projekts auf direkte Weise.  Deshalb wurde der Name „Jazda!” von unseren Kolleg*innen mit leichtem Erstaunen, aber auch mit Freude aufgenommen, nachdem ihnen der Grund für die Namensgebung bekannt war.

Diese Freude wollen wir nun auch mit Ihnen auf dem Pädagogischen Blog teilen.

Die Projektgruppe traf sich dieses Jahr erneut in Kreisau. Im Januar fand ein mehrtägiger Online-Austausch statt, darauf folgten noch ein paar kürzere Online-Treffen, und im Mai traf sich die Gruppe dann zu einem einwöchigen Programm in Marseille, das von der französischen Partnerorganisation – der Gedenkstätte Site-mémorial du Camp des Milles – durchgeführt wurde. Beim ersten Treffen in Präsenz ergab sich dann die Notwendigkeit, ein Wort in einer der Sprachen der Teilnehmenden zu wählen, mit dem sich die Aufmerksamkeit der gesamten Gruppe leicht erregen ließ. Gleichzeitig haben wir die ganze Zeit mit unseren Kolleg*innen aus dem Koordinierungsteam über einen griffigeren Namen als den bisherigen „Gemeinsam erinnern – Zukunft gestalten” nachgedacht.

Gewonnen hat „Jazda!” mit einem Ausrufezeichen – ein Wort, das zur Bewegung und Aufmerksamkeit auffordert. „Jazda” fand schnell die Zustimmung aller.

Das Wort „jazda” hat im PWN-Wörterbuch der polnischen Sprache die folgenden Definitionen:

1. „sich mit verschiedenen Fortbewegungsmitteln von Ort zu Ort bewegen”,

2. „das Bewegen, Fortschreiten von Fortbewegungsmittel”,

3. umgangssprachlich: „eine dynamisch wechselnde Situation, voller Eindrücke, überraschender Momente, oft unterhaltsam”.

Ist dies nicht der perfekte Name für ein Projekt über die Geschichte der Migration?

Na klar doch ...

Der Ursprung des Projektnamens ist also erklärt. Nebenbei bemerkt, der Name ist sehr wertvoll und hat mir erneut gezeigt, wie wichtig passende und attraktive Namen für wertvolle Inhalte und Bildungsprojekte sind.

Nun komme ich dazu, was ich teilen möchte und warum ich den Blogeintrag Herausforderungen und Erfolge sowie Herausforderungen, die ich als Erfolge sehe genannt habe.

Der vor kurzem abgeschlossene Jugendaustausch war ein historisch-politisches Projekt zum Thema Migration. Dabei lag der Fokus auf Erfahrung von drei Ortschaften: das kleine Dorf Kreisau, wo Migrationsbewegungen und der deutsch-polnische Bevölkerungsaustausch infolge der Grenzziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg das Bindeglied nicht für die Dorfseinwohner*innen sind, sondern auch die der ganzen Region. Der zweite Ort ist die Kleinstadt Friedland, wo 1946 ein Grenzdurchgangslager für vertriebene Deutsche errichtet wurde. Später wurde es zur Erstaufnahmeeinrichtung in Deutschland für Menschen aus allen Ecken der Welt. Das Lager wird ununterbrochen seit über 70 Jahren betrieben und nimmt gleichzeitig mehrere hundert migrierende Menschen auf. Der dritte Ort ist Les Milles in Südfrankreich, wo es während der Nazibesetzung ein Internierungslager für Menschen jüdischer Herkunft aus Frankreich und anderen Ländern gab.

Als wir das Programm erarbeiteten und die drei Geschichten in einen stimmigen Bildungsplan aufnehmen wollten, wussten wir, als Leitungsteam, dass das Programm erst dann an Wert und Bedeutung gewinnen wird, wenn es einen Bezug zu aktuellen Migrationsherausforderungen und -problemen herstellt.

Am Anfang der Partnerschaft (wir sagen immer scherzhaft, ich und Anna-Louise Wessling, Mitarbeiterin im Museum Friedland, sind die „Mütter” des Projekts), hätten wir nicht gedacht, wie aktuell und nah das Thema Migration würde und dass Migration, zunächst als Bindeglied der drei Orte gedacht, zum Leitthema des Jugendaustausches würde.

Seit unserer ersten Begegnung hat sich die Situation auf der polnisch-belarussischen Grenze drastisch verschlechtert, Ausnahmezustand wurde eingeführt, eine Mauer wurde gebaut, der Angriff Russischer Föderation auf Ukraine hat mehrere Millionen Menschen zur Asylsuche gezwungen. Das Phänomen der Migration ist in der Öffentlichkeit sichtbar geworden und betrifft nun Menschen, die davor damit nicht zu tun hatten. Neben der politischen Ereignisse war das Thema auch in unserer Projektgruppe präsent: Viele Teilnehmende hatten Migrationserfahrung, kommen aus Familien mit Migrationserfahrung oder hatten Migrant*innen im Freundeskreis. Daher ist die erste Herausforderung, die ich als Erfolg sehe, dass wir ein aktuelles und allgemeines Thema gewählt haben, um drei sehr unterschiedliche Orte zu verbinden. In der Bewerbungsphase wurde Migration als Leitthema des Projekts betont. Dadurch konnten wir eine interessierte Gruppe zusammenbringen, die offen für Erfahrungen und Arbeit mit ihren Erfahrungen war.

Die zweite Herausforderung war, sich mit der Geschichte tief auseinanderzusetzen und dabei in der Gegenwart zu bleiben sowie Geschichte mit der Wirklichkeit zu verbinden, in der wir während des Projekts lebten.

Als ersten Erfolg hier sehe ich die Tatsache, dass wir die Herausforderung überhaupt angenommen haben. Beim Erarbeiten des Programmes haben wir uns konzentriert auf: Verständnis von Situationen und Ereignissen, persönliche Ebene in jeder Geschichte, persönliche Erfahrungen sowie gesellschaftliche und politische Prozesse, die Migration beeinflussen.

Wir haben uns mit Zielen und Ursachen auf der persönlichen Ebene beschäftigt und dann sind wir zur universellen gelangt, mit keiner Geschichte direkt verbunden, auf der man ähnliche Erfahrungen in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zeiten nachvollziehen konnte.

Eine weitere Herausforderung war die Tatsache, dass die Gruppe mit ca. 35 Einzelpersonen zu einer Gruppe von Freunden wurde, die gerne Zeit miteinander verbrachte und sich gegenüber aufgeschlossen war. So ein gelungener Gruppenprozess ist im gewissen Sinne ein Traum jedes*r Gruppenleiters*in, aber es verlangt geleichzeitig viel mehr Aufmerksamkeit und Präsenz in der Gruppe, die nicht nur auf der inhaltlichen Ebene miteinander agiert, sondern sich auch emotional öffnet. Das war während der Begegnung in Kreisau sehr spürbar. Da der Austausch in den Sommerferien stattfand, wollten wir den Jugendlichen viel Zeit zur freien Gestaltung geben, wofür sie selber verantwortlich waren. So konnten sich die Teilnehmenden in der gemeinsamen Freizeit besser kennenlernen. Dadurch wurden wiederum eine tiefere Beziehungsebene, Gespräche und Diskussionen möglich. Da die Jugendlichen sich besser kannten, hatten sie weniger Befürchtungen, ihre Meinungen, Gedanken, Zweifel, Gefühle und Reaktionen auf ungerechte und gewaltsame Situationen zu äußern, von denen es in der Geschichte der Migration viele gibt.

Über „Jazda!” könnte ich noch lange erzählen. Aber eine Sache noch möchte ich hervorheben: In der Gruppe gab es Teilnehmerinnen, die nur zu den Projektterminen kommen dürfen, die in ihrem aktuellen Aufenthaltsstaat stattfinden. Die Ursache dafür ist, dass sie auf neue Dokumente und Behördenentscheidungen warten und als Personen ohne Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaates dürfen sie ihren jetzigen Aufenthaltsstaat nicht verlassen. Dies hatte Einfluss auf den Projektverlauf gehabt und wird es weiterhin haben.

Unser Leitungsteam ist überzeugt davon, dass durch historisch-politische Bildung die Gegenwart besser verstanden werden und die bürgerliche Verantwortung steigen kann. Diese Bildung muss Lernende, ihre Erfahrungen sowie Emotionen berücksichtigen.

 

Luba Shynder

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